
Seit ich angefangen hatte zu tanzen, habe ich den Flamenco geliebt. Als ich meine erste Tanzschule eröffnete mit Ballett, Streetdance, Moderndance und Tapdance musste auch Flamenco dabei sein. Doch die Kursleiterin, welche ich engagiert hatte, verließ mich, um in die USA zu gehen. Also sah ich mich gezwungen selbst zu unterrichten. Das sollte mir, mit Zigeunern als Vorfahren doch leicht fallen. Deshalb meldete ich mich zu einem Flamenco-Kurs in Nerja, Spanien, Andalusien an.
Ich fühlte mich mit meinen 27 Jahren noch sehr jung und abenteuerlustig und hatte keine Ahnung, was auf mich zukam. Mit meinen paar Brocken Spanisch aus einem Spanischgrundkurs sollte ich nicht allzu weit kommen. Der Kurs war nur für 5-6 Schülerinnen und wir bekamen kein Hotelzimmer dazu. Es sollte alles so authentisch, wie möglich sein, deshalb buchte ich mutig ein Zimmer in 2er-Belegung bei einer, dem Trainer-Paar bekannten, Spanierin, mitten in Nerja. Nach meiner Ankunft am Flughafen von Málaga, fand ich schnell den richtigen Bus nach Nerja. Das Städtchen war damals noch klein und überschaubar, also machte ich mich zu Fuß auf, durch die romantischen Gässchen, bis ich die Adresse und das Haus gefunden hatte. Es war später Nachmittag. Die Gastgeberin begrüßte mich herzlich auf spanisch, sie konnte kein Wort deutsch und ich zu wenig spanisch. Prima. Sie brachte mich in mein Zimmer und erklärte mir mit Händen und Füßen, sowie ein paar Worten englisch, dass noch eine zweite Person, so gegen Mitternacht ankommen würde. Das Zimmer war sauber und ordentlich, aber dunkel, ohne Fenster. Ich war müde und wollte nicht mehr raus, also ging ich früh schlafen. Mitten in der Nacht, wachte ich auf, weil tatsächlich meine Mitbewohnerin angekommen war. Wir begrüßten uns herzlich und verstanden uns gleich prima, auch wenn sie 10 Jahre jünger war als ich. Wir redeten die ganze restliche Nacht.

Am nächsten Morgen machten wir uns auf den Weg ins Städtchen, wobei ich es eher als Dorf bezeichnet hätte. Bei einer einladenden Bäckerei holten wir uns Kaffee und Brötchen. Wir frühstückten unterwegs, denn unsere Unterkunft war ohne Verpflegung, und erkundeten dabei ein wenig den Ort. Gegen Mittag fanden wir eine Pizzeria. Schon damals trug die Globalisierung dazu bei, dass es überall auf der Welt, dieselbe Pizza gab und nur noch wenig einheimisches Essen. Also gönnten wir uns eine Pizza und Vino tinto. Wir tranken ihn in erster Linie, weil wir das Wort so toll fanden. Vino tinto, das reimt sich so schön und nein, es klang weder nach Tinte noch nach Tintenfisch. Es klang wie etwas ganz besonderes, etwas, dass man einfach probiert haben muss, auch wenn man keine Ahnung hat, was es heißt. Google-Übersetzer gab es damals noch nicht, d.h. es gab noch kein Wlan auf dem Handy. Gestärkt und guter Dinge machten wir uns auf den Weg ins Tanz-Studio. Flamenco-Studio Vicky y Juan. Es war ein kleines privates Haus mit einem schönen Innengarten, in welchem wir tanzen konnten. Unsere beiden Flamenco-Lehrer waren sehr lieb. Zuerst überredete sie uns, Stoff für einen Flamencorock bei ihr zu kaufen. Sie würde uns davon die passenden Rüschen an unsere einfachen Trainingsröcke nähen, damit es nach Flamenco aussieht, vor allem aber, damit der Rock schwerer wird und besser fällt. Nachdem wir unsere Farbauswahl getroffen hatten, durften wir die ersten Schritte lernen, eine Bulería. Wir hatten viel Spaß. Dennoch musste man sich sehr konzentrieren, um sich bei dem vorgegebenen Tempo alle Schritte merken und in der richtigen Reihenfolge tanzen zu können. Als wir abends in unserer Unterkunft ankamen, fragte meine neue Freundin nach einer Möglichkeit zum Üben. Sie konnte besser spanisch als ich. Wir durften auf die Dachterrasse. Also nahmen wir unsere Röcke und das Essen, was wir besorgt hatten, um es uns auf dem Dach gemütlich zu machen.

So in etwa muss das von oben ausgesehen haben. An die Adresse kann ich mich nicht mehr erinnern, aber daran, dass damals die meisten Häuser so eine Dachterrasse hatten. Wir konnten das von unserer aus sehen. Auf google-maps konnte ich jetzt kaum noch eine finden. Es war Urlaubsfeeling pur. Sonne, laue Nächte, Flamenco, Essen, Vino Tinto und eine Freundin, die ich erst seit ein paar Stunden kannte, aber glaubte schon ewig zu kennen. Warum gibt es sowas heute nicht mehr? Warum sind wir viel misstrauischer und verschlossener Fremden gegenüber? Vielleicht weil wir uns damals nicht hinter einem handy verstecken konnten, sondern miteinander reden mussten? Dabei kann man so vieles gemeinsames entdecken. Vor allem die Liebe zum gemeinsamen Hobby, dem Tanz. Sie kam aus Köln und studierte dort auf der Hochschule für Tanz. Ich hatte nur die Möglichkeit gehabt an vielen sehr guten Tanzschulen in der Schweiz zu lernen. Sie liebte Pina Bausch, ich José Limon und Jennifer Muller. Doch so hatten wir ganz allgemein die Liebe zum Tanz und Flamenco, genossen es aber auch, uns über unsere eigenen Vorlieben austauschen. Wir hatten jedenfalls jede Menge Spaß. Als es Nacht wurde glitzerten die Sterne über uns am Himmel. Es war zauberhaft, mystisch, einfach schön. Wir entdeckten unsere gemeinsame Liebe zu Musicals.
Am nächsten Tag zogen wir Musicals singend durch die Straßen. Am liebsten trällerten wir Songs aus Les Misérables, aber auch aus vielen anderen aktuellen Musicals. Nach unserem kleinen Frühstück in der Bäckerei zogen wir zum Strand. Es war nicht viel los, wir fanden einen Lieblingsplatz im Schatten der Felsen.

Aber damals hatte Málaga noch keine Kläranlage. Wir wunderten uns, dass zu bestimmten Zeiten, wenn wir ins Wasser gingen, plötzlich Ausscheidungen im Wasser trieben. War das eklig. Erst auf dem Heimflug verstand ich, dass Spanien seine Abwässer direkt ins Meer leitete. Vom Flugzeug aus konnte ich einen Mann mitten in den Fäkalien schwimmen sehen. Warum nenne wir uns eine Zivilisation, wenn wir nicht in der Lage sind unsere Gewässer sauber zu halten? Das klingt eher nach Entwicklungsland. Warum haben die Spanier so was zugelassen, wenn sie doch genau wissen, dass die Touristen darin herum schwimmen? Warum sind wir so respektlos miteinander? Warum tut man so etwas Touristen an, die viel Geld bringen und dem Land Aufschwung geben? Heute gibt es inzwischen 2 Kläranlagen, dennoch leiten umliegende Dörfer ihre Abwässer immer noch ungeklärt ins Meer, so wie Paris in die Seine. Ich habe über das Wasser geschrieben, es bedeutet Leben. Ich formuliere den jetzt logisch folgenden Satz nicht aus. Dies war jedenfalls der Grund warum ich seither nicht mehr in Spanien war. Das war die unschöne Seite von Nerja. Wir hatten leider keine Gelegenheit uns die Höhlen von Nerja anzuschauen, oder sonstige Sehenswürdigkeiten. Wir sonnten uns morgens, gingen mittags zum Training und übten abends bis in die Nacht auf dem Dach unterm Sternenhimmel. Die Woche ging schnell rum und wir mußten wieder nach Hause. Doch Flamenco habe ich dann die nächsten 10 Jahre an meiner Tanzschule unterrichtet.
Am letzten Abend hatten wir die Gelegenheit eine echte Flamenco-Veranstaltung zu besuchen. Es war toll. Der Rhythmus, der einen mitreißt, die Farben, die Musik. Es ist erstaunlich, all das klingt einfach auch nach Leben, wie das Wasser. Vielleicht gehört der Rhythmus, die Bewegung zum Wasser, denn Leben ist Bewegung. Warum erkennen wir so was nicht? Warum stellen wir solche Zusammenhänge nicht her? Stattdessen jammern wir rum, wenn totes, bewegungsloses Eis endlich anfängt wieder lebendig zu werden. Warum wohl kommt der Flamenco von den Zigeunern? Weil auch sie immer in Bewegung waren? Warum findet man das Offensichtliche nicht in der Geschichte des Flamenco? Zitat: „Flamenco ist ein kultureller Ausdruck in ständiger Entwicklung, der sich vor allem in drei Modalitäten manifestiert: Singen, Tanzen und Gitarre spielen. Flamenco ist ein rein andalusisches Phänomen. Es ist das Ergebnis jener populären andalusischen Tänze und Musik, die in die Welt der Zigeuner gebracht wurden, die ihnen eine besondere Farbe verliehen und sie ihrer Musikkultur angepasst haben. Und aus diesem Schmelztiegel der andalusischen Musik, aus dieser Verschmelzung tausendjähriger Kulturen, aus dieser Symbiose blüht diese Flamenco-Zigeuner-Andalusische Kunst, und das Zigeunervolk gibt sie uns mit der Tiefe und dem Temperament zurück, die sie charakterisieren.“ Ganz besonders der lebendige Rhythmus mit Klatschen(Palmas) und Kastagnetten sowie die einzigartigen Bewegungen der Tänzerinnen stammen aus der Kultur der Zigeuner. Warum erkennen wir also nicht den Zusammenhang zwischen Bewegung, Rhythmus und Leben und damit die Verbindung von Bewegung und Wasser?

Dagegen ist der aus Andalusien stammende Volkstanz Sevillanas eher eine modernere Art des höfischen Tanz, in seiner Bewegung und auch der Haltung. Also eher ruhig. Deshalb sehe ich den Ursprung der tänzerischen Bewegungen und energiegeladenen Darbietungen des Flamenco eher bei den Zigeunern und bringe diese deshalb mit der Bewegung in Verbindung. Sie wurden nicht umsonst fahrendes Volk genannt, auch wenn viele inzwischen sesshaft sind. Warum weise ich so explizit auf diese Verbindung hin? Warum glauben wir, dass es gut ist die Bewegung zu kontrollieren? Warum verstehen wir nicht, dass unsere begradigten Flüsse vor allem deshalb krank sind, weil sie sich kaum noch bewegen? Klar, viele sollen renaturiert werden, aber nicht wegen der Bewegung, sondern wegen der Artenvielfalt. Warum glauben wir, die Artenvielfalt retten zu können, wenn wir zwar Flüsse renaturieren, aber ihr Flussbett dennoch für die Schifffahrt viel zu tief ausgebaggert bleibt ? Warum glauben wir, dass ein fast toter langsam fließender Strom noch genug Leben mit sich bringt, um Artenvielfalt zu gewährleisten? Warum wollen wir nicht wahrhaben, dass wir ohne sauberes, gesundes und lebendiges Wasser auch selbst aufhören werden zu leben? Warum sind wir so verblendet zu glauben, dass unsere digitale Welt die Rettung sei, wo doch ein elektrischer Teilchenstrom das Leben in den meisten Fällen auch beendet, Wasser hingegen nicht. Warum gehen wir nicht einfach wieder lieber zu Fuß und bleiben so in Bewegung? Die Tänze, der Gesang und das Gitarrenspiel gehören zwar zum immateriellen Kulturerbe der UNESCO, doch schätzen und bewahren wir es auch entsprechend? Als ich heute Andalusien gegoogelt habe, wurde Flamenco mit keinem Wort erwähnt. Warum? In letzter Zeit fällt mir oft auf, dass alte geschichtliche Fakten aus unseren Internet-Seiten immer mehr verschwinden. Warum geschieht das? Warum soll alte Kultur und Geschichte langsam aber sicher durch Neues ersetzt werden? Warum sollen wir vergessen? Wer steckt dahinter?

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